Psychologie des Konsum zwischen Versuchung und Verzicht (Teil 2)
Was steckt hinter der Konsumpsychologie und wie gehen wir Menschen mit dem schmalten Grat zwischen Versuchung und Verzicht um? Mit diesen Fragen beschäftigt sich unser Referent Univ.-Lekt. Mag. Dr. Josef Sawetz in seinem zweiteiligen Gastartikel. Im zweiten Teil werfen wir einen Blick auf Sonderpreis-Aktionen wie den Black Friday oder den Cyber Monday, gesellschaftlich fabrizierte Wunschvorstellungen und was hinter der Selbstoptimierungsgesellschaft steckt.
Viel zu besitzen macht uns unsere Vergänglichkeit vergessen
Sonderpreis-Aktionen wie z.B. Black Friday oder Cyber Monday instrumentalisieren unseren Jäger-Sammler-Trieb – das Erbe unserer Urahnen in uns. Gelegenheit zum günstigen Kauf weckt unsere Jäger- und Sammler-Gene. Wir fühlen uns dabei nur wenig schlecht.
Das Gefühl der Sicherheit, das uns das Anhäufen von materiellen Gütern verschafft, ist eine Hinterlassenschaft unserer menschlichen Stammesgeschichte. Damit fühlen wir uns weniger verletzlich und zerbrechlich und rücken die vorherrschende latente Todesangst weit von uns weg.
Wenn wir uns mit Dingen umgeben, die wir öffentlich zur Schau stellen können wie Kleidung, Taschen, Smartphones, Schmuck und Autos drücken wir nicht nur unser Bekenntnis zu bestimmten Marken und zu einem individuellen Stil aus, sondern markieren damit auch unsere Position und unseren Status in der Gesellschaft.
Wir wollen alle in gleicher Weise einzigartig sein
Wir wollen einzigartig sein und uns von der Masse abheben. Viele Konsumprodukte bedienen genau diesen Wunsch. Denn nur das einzigartige und unvergleichliche hat für uns einen wahren Wert.
Der Wunsch, sich zu unterscheiden, zeigt sich nicht nur im typischen symbolischen Konsum. Dieser Konsum kann öffentlich zur Schau gestellt werden und betrifft die genannten Produkte wie Autos, Smartphones und Kleidung. Er umfasst auch immer mehr Bereiche unseres Lebens.
Der Lebensmitteleinkauf und die Wahl einer bestimmten Ernährungsweise sind mehr als nur gut für den Körper. Sie sind ein Statement und zeigen eine bestimmte Einstellung oder Weltanschauung.
In Wirklichkeit sind wir einander viel, viel ähnlicher als wir es wahrnehmen und zwar auch über ethnische und soziale Grenzen hinweg.
Um uns besser zu orientieren, fokussieren wir auf Unterschiede statt auf Gemeinsamkeiten. Denn in Wahrheit sind wir alle einzigartig und unvergleichlich.
Es gibt hinsichtlich der Feinstruktur unseres Gehirns kein zweites Gehirn auf der Erde, das exakt gleich aufgebaut ist. Und das wird auch so bleiben. Es wird mämlich niemals ein Gehirn geben, das genau wie unseres aufgebaut ist. Unser Gehirn hat einzigartige Milliarden von Neuronen und Billionen von synaptischen Verbindungen.
Gleichzeitig sind aber wesentliche Teile unseres Gehirns, die unsere Emotionen und Gedanken steuern, kollektiv vorgegeben und die Unterschiede zwischen den Menschen hier nur minimal. Das heißt, wir leben in der Paradoxie (Aporie), dass wir gleichzeitig einzigartig und doch sehr, sehr gleich sind.
Konsumpsychologie Kurse
Gehen Sie dem Konsumverhalten Ihrer Kund*innen auf die Spur.
Die Art des Verzichts trennt die Menschen voneinander
Heute pendelt bei vielen Menschen der Konsum zwischen Versuchung und Verzicht. Bei den meisten übersteigen die Zahl und das Ausmaß ihrer Wünsche ihre Möglichkeiten der Erfüllung. Sie empfinden ein permanentes Defizit.
Sie fühlen sich als unvollständige Menschen. Ihr wirkliches Leben entfernt sich dadurch immer mehr von ihrem erträumten Leben. Für sie ist das kein freiwilliger Konsumverzicht, sondern ein aus Ermangelung vorhandener Ressourcen erzwungener.
Freiwilliger Konsumverzicht hingegen ist ein Luxus-Phänomen in einer Überflussgesellschaft von Personen, die sich bereits einen Großteil ihrer Wünsche erfüllen konnten. Für viele unter ihnen ist Konsumverzicht eine paradoxe Form des demonstrativen Konsums, der in der öffentlichen Selbstdarstellung eine Form der Selbstverwirklichung darstellt.
Sich gegen ein Auto mit Verbrennungsmotor zu entscheiden, keine tierischen Produkte zu konsumieren oder Secondhand-Kleidung zu tragen, sind gesellschaftlich wahrnehmbare Zeichen der individuellen Identität. Damit erfüllt in der heutigen Überflussgesellschaft bewusster Konsumverzicht eine identitätsstiftende Funktion, die früher nur durch Konsum verwirklicht werden konnte.
Von der Leistungs- über die Bewertungs- zur Selbstoptimierungsgesellschaft
In den durch soziale Medien verschärften sozialen Vergleichsprozessen ist der Einzelne heute Teil einer Bewertungsgesellschaft, die durch das ständige Einbringen neuer Sollwerte wie Schönheitsideale oder die medial inszenierten Vorstellungen eines erfolgreichen und glücklichen Lebens unsere Leistungsgesellschaft zunehmend in eine Selbstoptimierungsgesellschaft verwandelt hat.
Wünsche werden damit in großem Maßstab medial fabriziert und so zur Grundlage für die Begehrlichkeit von Gütern, die diese Wünsche befriedigen können. Eingebettet in dieser Selbstoptimierungsgesellschaft ist Konsum heute ein wichtiges Mittel, um Status und Selbstbild aufrechtzuerhalten. Paradoxerweise erfüllt auch der Konsumverzicht diese Funktion.
Gesellschaftlich fabrizierte Wunschvorstellungen
Wenn man sich bewusst ist, dass fast alle unserer Wünsche gesellschaftlich fabrizierte Wunschvorstellungen sind, die wir bewusst aber viel öfter unbewusst in unserer Interaktion mit anderen Menschen und unserer Rezeption von medialen Inhalten übernehmen, ist der erste Schritt zu einer Befreiung von dieser Diskrepanz zwischen dem aktuellen Selbstbild und dem fast nie erreichbaren Wunschbild getan. Wir halten die von außen übernommenen Wunschvorstellungen für unsere eigenen Wünsche und lassen uns damit von der Wunschindustrie zu Konsum-Robotern versklaven. Und hier ist auch die – von außen übernommene – Motivation zum bewussten Konsumverzicht mitgemeint.
Die Selbstermächtigung, Wünsche als selbstgemachte Maßstäbe zu definieren
Damit pendelt Konsum nicht nur zwischen Versuchung und Verzicht – freiwilligen, bewussten und unbewussten Verzicht – sondern zwischen Versuchung, Verzicht und Befreiung. Die bewusste Befreiung von Konsumzwängen, die durch die unreflektierte Übernahme von Idealbildern entstehen, die uns von uns selbst trennen, stellt damit die wahre Selbstermächtigung dar. Die Selbstermächtigung nach eigenem Ermessen und nach eigenen Vorstellungen und Idealen seine ganz eigenen Wünsche für sein Leben zu definieren.
Hier geht es zu Teil 1 >>, u. a. mit den Themen warum der Mensch als Mängelwesen auf Konsumprozesse angewiesen ist und welche Rolle Emotionen beim Konsum spielen
Weiterführende Literatur:
Sawetz, J. (2021), Kommunikations- und Marketingpsychologie. Grundlagen kommunikativer und persuasiver Prozesse aus Psychologie, Neurowissenschaften, Evolutionsbiologie, Systemtheorie und Semiotik. Wien“ (663 Seiten, zahlreiche Abbildungen, umfangreiches Literaturverzeichnis). Inhaltverzeichnis: www.sawetz.com/publications